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Auf dieser Seite werden wir regelmäßig Texte zu Themen vorstellen, die uns beschäftigen. Das können Notizen aus unserer Arbeit sein oder auch Artikel, die Grundfragen für unsere Gesellschaft, die in der aktuellen Situation deutlich werden, aufgreifen und thematisieren.
20.07.2020
„Democracy will fail, if we don’t think as citizen“
Martin Wolf hat in der Financial Times vom 6.7.2020 ein Plädoyer für „Citizenship“ gehalten. Unter dem Titel „Democracy will fail, if we don’t think as citizen“, macht er das Verständnis vom „Bürger-Sein“ zum zentralen Moment unserer Demokratie.
Er skizziert in seinem Artikel die Entwicklungen in der westlichen Welt seit dem zweiten Weltkrieg aus einer politischen, sozialen und einer ökonomischen Perspektive skizziert und fragt er danach, um welche Idee sich Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sich heute drehen könnte.
Seine Antwort lautet: wir brauchen Citizenship. Dieses Konzept, das auf die Stadtstaaten der Griechen und Römer zurückgeht, war schon damals mehr als nur eine politische Idee, es war ein Lebenskonzept. Bei Aristoteles Vorstellung sind Menschen nur dann voll und ganz Menschen, wenn sie aktive Teilnehmer in einer politischen Gemeinschaft sind und Martin Wolf teilt das: „In einer Demokratie sind die Menschen nicht nur Verbraucher, Arbeitnehmer, Geschäftsinhaber, Sparer oder Investoren. Wir sind Bürger. Das ist das Band, das die Menschen in einem gemeinsamen Bestreben zusammenhält.“
In der heutigen Welt bedeutet das in Wolf’s Verständnis
• „Loyalität gegenüber den demokratischen politischen und rechtlichen Institutionen und den Werten der offenen Debatte und gegenseitigen Toleranz, die ihnen zugrunde liegen;
• Sorge um die Fähigkeit aller Mitbürger, ein erfülltes Leben zu führen;
• Der Wunsch, eine Wirtschaft zu schaffen, die es den Bürgern und ihren Institutionen ermöglicht, zu gedeihen.“
Was, so fragt er dann, könnte eine Rückkehr zur Idee des Citizenship für uns heute bedeuten?
„Sie bedeutet nicht, dass der Staat sich keine Sorgen um das Wohlergehen von Nicht-Bürgern machen sollte. Es bedeutet auch nicht, dass er den Erfolg seiner eigenen Bürger als Gegenstück zu den Misserfolgen anderer sieht. Im Gegenteil, er strebt nach gegenseitig vorteilhaften Beziehungen mit anderen Staaten. Es bedeutet nicht, dass sich Staaten vom freien und fruchtbaren Austausch mit anderen Gesellschaften abschotten sollten. Handel, Ideen-, Personen- und Kapitalverkehr können, wenn sie richtig reguliert werden, von großem Nutzen sein. Es bedeutet nicht, dass Staaten es vermeiden sollten, eng miteinander zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dies gilt vor allem für Maßnahmen zum Schutz der globalen Umwelt.
Es bedeutet, dass die erste Sorge demokratischer Staaten das Wohlergehen ihrer Bürger ist. Um dies zu verwirklichen, ergeben sich bestimmte Dinge.
• Jeder Bürger sollte eine vernünftige Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu erwerben, die es ihm ermöglicht, so umfassend wie möglich am Leben einer hoch qualifizierten modernen Wirtschaft teilzunehmen.
• Jeder Bürger sollte auch die Sicherheit haben, die er braucht, um sich zu entwickeln, selbst wenn er durch Krankheit, Behinderung oder andere Unglücksfälle in Bedrängnis gerät.
• Jeder Bürger sollte den Schutz bei der Arbeit haben, den er benötigt, um frei von körperlichem und geistigem Missbrauch zu sein. Jeder Bürger sollte auch in der Lage sein, mit anderen Arbeitnehmern zusammenzuarbeiten, um ihre kollektiven Rechte zu schützen.
• Erfolgreiche Bürger sollten davon ausgehen, dass sie ausreichend Steuern zahlen, um eine solche Gesellschaft zu erhalten. Unternehmen sollten verstehen, dass sie Verpflichtungen gegenüber den Gesellschaften haben, die ihre Existenz möglich machen.
• Alle Bürger, ungeachtet ihrer Rasse, ethnischen Zugehörigkeit, Religion oder ihres Geschlechts haben Anspruch auf Gleichbehandlung.
• Die Bürger haben das Recht zu entscheiden, wer in ihr Land kommen und dort arbeiten darf und wer berechtigt ist, die Pflichten und Rechte der Bürger mit ihnen zu teilen.“
Einige der von ihm aufgeführten Konsequenzen aus der Idee des Citizenship wurden schon oft formuliert und werden nicht in Frage gestellt. Die Forderung, dass erfolgreiche Bürger ausreichend Steuern zahlen und dass Unternehmen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft haben, sind bekannt, werden aber als moralische Verpflichtung behandelt, die man erfüllen kann oder auch nicht. Dass die Bürger das Recht haben zu entscheiden, wer in ihr Land kommt und dort arbeiten darf - das ist neu.
Wenn man diese Anforderungen aus der Idee des Citizenship auf politischen Institutionen und Politik hin denkt, dann wird deutlich - und das formuliert Martin Wolf auch - dass die politischen Institutionen „… offen sein müssen für den Einfluss aller Bürger, nicht nur für den der Reichsten … … und dass die Politik darauf abzielen sollte, eine starke Mittelschicht zu schaffen und zu erhalten und gleichzeitig ein Sicherheitsnetz für alle zu gewährleisten.“
Wie können wir diese Ziele erreichen? Das kann man im Vorfeld nicht wissen, genau das ist es ja, „… worum es in der Politik gehen muss. Das bedeutet aber nicht, in die 1960er Jahre zurückzugehen. Die Welt hat sich zu tiefgreifend und in den meisten Bereichen zum Besseren verändert. Wir gehen nicht zurück in eine Welt der Massenindustrialisierung, in der die meisten gebildeten Frauen nicht arbeiteten, in der es klare ethnische und rassische Hierarchien gab und in der westliche Länder dominierten.
Darüber hinaus stehen wir mit dem Klimawandel, dem Aufstieg Chinas und der Umgestaltung der Arbeit durch die Informationstechnologie vor ganz anderen Herausforderungen.“
Dennoch bleibt die Forderung, dass …
„… die Menschen sowohl kollektiv als auch individuell handeln müssen. Gemeinsames Handeln in einer Demokratie bedeutet, als Bürger zu handeln und zu denken. Wenn wir dies nicht tun, wird die Demokratie scheitern. Es ist die Pflicht unserer Generation, dafür zu sorgen, dass sie das nicht tut.“
beuckegalm - 10:16 @ Gesellschaft