Institut für Organisationsberatung und Dialog

Matthias Horx: Future Mind Kolumne 123

Menschen sind Zukunftswesen. Wir sind von der Evolution dazu geschaffen, ja dazu designt, uns die Zukunft vorzustellen. Und aus diesen Vorstellungen Pläne, Handlungen, Erneuerungen zu erschaffen. „Having a future is part of what being human is about.“, schrieb der amerikanische Zukunftsforscher Kevin Kelly. „When you take away the future for humans, you take a lot of their human-ness.” (Eine Zukunft zu haben, ist Teil des Menschseins. Wenn man den Menschen ihre Zukunft nimmt, nimmt man ihnen viel von ihrer Menschlichkeit.)

Wenn wir die Zukunft verlieren, verlieren wir uns selbst. Nur als hoffende, sehnende Wesen können wir wachsen und gedeihen. Und weil das so ist, sind wir derzeit in einer dramatischen, ja tragischen Situation.

Denn wir leben in einer Zeit der Zukunftslosigkeit. Des Verlustes von Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Endzeit einer Fortschritts-Epoche, die sich als eine Illusion zu erweisen scheint. Die Zukunft hat sich hinter den Horizont zurückgezogen. Von dort aus droht sie uns. Mit schrecklichen Katastrophen und endlosen Weltuntergängen. Mit entsetzlicher Öde (wir verwandeln uns alle in Maschinen). Oder mit einem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation. An deren Zivilisiertheit wir mehr und mehr zweifeln.

Es ist Zeit, unsere Zukunfts-Sehnsucht wieder zu beleben. Dafür müssen wir zunächst unterscheiden, auf welche Weise wir die Zukunft in unserem Inneren konstruieren. Auf welche Weise SEHNEN wir die Zukunft herbei? Wie setzen wir uns mit ihr in Verbindung? Unsere Vorstellungskraft stellt uns viele Möglichkeiten zur Verfügung: utopische, protopische, dystopische, meta-visionäre und hyper-halluzinative. Wir „zukünften“ die Welt durch unsere inneren Wahrnehmungen, geben ihr eine Gestalt, die dann unseren MIND in eine bestimmte Richtung zwingt.
Wie wir die Welt imaginieren, so kann, so wird sie in gewisser Weise auch werden …

Brauchen wir nicht in einer Zeit der zunehmenden Zukunfts-Losigkeit mehr UTOPIEN? Das fordern viele. Aber Vorsicht! Utopien haben schwere Nebenwirkungen.

Utopie

Die Utopie ist ein Idealzustand am Horizont, den man nie erreichen kann. Denn wenn man sich ihm nähert, erweist er sich als unwirklicher „Nichtort“. Utopien scheitern an einer Festlegung, die keinen Raum mehr für wirklichen Wandel lässt. Alles ist von vornherein festgelegt. Deshalb gehen die Utopien immer an einem Akt der Verzweiflung zugrunde: Wenn wir eine Utopie zu verwirklichen versuchen, geraten wir in eine verengte Form der Wahrnehmung, die immer alles am Perfekten misst – und dadurch negativ beurteilt. Schnell suchen wir nach den Verrätern, die den hehren Traum verderben. Schnell zerfällt alles in Fraktionen, die um Ideologien streiten statt Wirklichkeit zu schaffen. Statt Aufbau entsteht Verfolgung. Statt Freiheit beginnt Tyrannei. Auf diese Weise sind schon so viele Utopien tragisch gescheitert, so viele Revolutionen an sich selbst zerbrochen, dass wir zum Utopischen lieber eine kluge, ironische Distanz halten sollten.

Dystopie

Die Dystopie ist die Rückfallposition des Utopischen. Wenn wir von der Zukunft nichts mehr erhoffen, wenden wir uns einer negativen Utopie zu, in der wir eine ganz eigenartige Form von Genuss finden können (der Antipsychiater Lacan nannte das die „jouissance“). In der endzeitlichen Phantasie überhöhen wir uns selbst und kompensieren unsere Schuldgefühle und Aggressionen zu lustvollen Straf-Emotionen. Die Menschheit ist selbst schuld! „Der Mensch“ ist so blöd, dass er endlich aussterben muss! Im Weltuntergang wird eine negative Gerechtigkeit wieder hergestellt: Alle sterben, niemand überlebt, niemand kann Besseres erschaffen. Läuterung durch Zerstörungsphantasie. Die Dystopie ist in Wahrheit ein narzisstischer Größenwahn, in dem wir uns vorstellen, so mächtig zu sein, dass wir die ganze Welt zerstören können. Allerdings wird auch das nicht gelingen.

Protopie

Der Begriff der PROTOPIE wurde vom Zukunftsforscher Kevin Kelly geprägt – als Gegenentwurf zu den hypertrophen Visionen und Utopien der High-Tech-Zeit. Eine Protopie ist ein Entwurf. Ein aufrichtiger Versuch des Besseren. Sie ist ein Provisorium, ein Prototyp, den wir verbessern können, in kleinen, graduellen Schritten, die sich dann durch Lernprozesse weiterentwickeln lassen. In der Protopie verzichten wir auf den Perfektionswahn des Utopischen; wir wissen, dass auch Scheitern und Unglück zum Leben dazugehören. Anders als die Utopie lässt uns die Protopie die Freiheit der Wahl, die Würde des Experiments. Daraus entsteht Zukunft als ständige Verwandlung.

Hypervision

Wer eine Vision hat, soll zum Arzt gehen. Schon hunderttausendmal ist dieser Satz durch die Behauptung des Gegenteils widerlegt worden. Aber auch das Gegenteil ist falsch. Visionen können tatsächlich pathologisch werden.
Hypervisionen sind Trugbilder, die uns in täuschende Wahrnehmungen der Wirklichkeit zwingen. Sie sind übertriebene, verzerrte Wunschbilder. In ihnen sehen wir die Zukunft ausschließlich durch unsere Ego-Projektionen und konstruieren sie als das Zerrbild der Gegenwart. Wir geraten in Übertreibungen und Halluzinationen, die uns einsam und hilflos werden lassen. Aber gleichzeitig fühlen wir uns ungeheuer mächtig, denn WIR allein wissen über die Welt Bescheid. Das Elon-Musk-Syndrom.

Retrotopie

Der polnische Philosoph Zygmunt Bauman taufte mit diesem Begriff die Rückwärts-Utopie. Retrotopien sind immer dann angesagt, wenn der Weg in die Zukunft versperrt scheint und wir uns dem Wandel, der mit Schmerzen verbunden ist, verweigern. Retrotopien scheitern auf vielfältige Weise: Erstens, weil man die Vergangenheit nicht einfach wieder„herstellen“ kann – sie sähe, wenn wir sie betreten würden, vollkommen fremd und anders aus, wie ein Puppentheater oder ein schreckliches Museum. Zweitens war die Vergangenheit nie „besser“. Unsere „Retro-Bias“ lässt uns vielmehr in der Illusion, Erinnerung wäre eine Speicherung des Früheren. In Wirklichkeit KONSTRUIEREN wir die Vergangenheit durch Erinnerung als Illusion.

Transformation

Der einzige Weg, in dem wir „die Zukunft erreichen“ können, ist die (Selbst-)Verwandlung. Wie eine Raupe, die sich beim Verpuppen in einen Schmetterling umformt, müssen wir die alte Form auflösen, um eine neue Wirklichkeit zu gewinnen (Wirklichkeit ist die Realität, in der wir wirken, also existieren können). Es ist ratsam, eine neue Atmosphäre atmen zu lernen, wenn wir einen neuen Planeten betreten. Nur indem wir uns beim Übergang in eine neue Welt selbst verwandeln, erzeugen wir die Zukunft.

Matthias Horx: Auszüge aus der Future Mind Kolumne vom 14.12.24